Verloren? Erlöst? Belohnt?

Ein junges Mädchen verliebt sich in einen älteren Mann, wird vom ihm schwanger, aber noch bevor sie ihm davon berichten kann, ist er verschwunden. Ihre Mutter ist tot, gestorben an einem Schlaftrank, den das junge Mädchen von ihrem Lover erhalten und der Mutter verabreicht hat. Ihr Bruder ist tot, im Kampf ermordet von ihrem Liebhaber. Sie trägt das Kind aus und bringt es um. Dafür wird sie zum Tode verurteilt.
Das sind die hard facts aus Goethes Faust, der Tragödie erster Teil. Allein diese sind genug Stoff für einen Abend, doch da ist noch so viel mehr: Die Nachbarin, die dem jungen Mädchen die Liebelei erst ermöglicht - der Freund des Liebhabers, der sich so merkwürdig verhält - die Freundin, die sich abwendet statt Verständnis zu zeigen - die Gemeinde, die in der Kirche betet und doch keine Nächstenliebe walten lässt - ...
Goethe offenbart in seinem Stück die Moral seiner Zeit und wenn wir denken, dass wir uns seitdem so viel weiter entwickelt haben, so muss doch die Frage erlaubt sein, ob eine solche Geschichte sich heute noch wiederholen könnte. Und die Anwort lautet leider "Ja". Auch heute noch erleben wir alle die Gefühle, die Gretchen gefühlt hat. Und noch immer gibt es Frauen, die sich in einer solchen Ausnahme-Situation befinden, dass sie ihr Neugeborenes umbringen. Noch immer gibt es Männer, die entweder nichts von der Schwangerschaft wissen oder wissen wollen. Alles ist auch in der heutigen Zeit noch möglich, nichts undenkbar.
Am Ende jedoch gibt es für Gretchen eine Rettung: Goethe schreibt die Erlösung für sie in das Stück. Nicht die irdische Erlösung, sondern die Aufnahme in den Himmel. Sie übergibt sich der himmlichen Gerechtigkeit, sagt sich von ihrem Liebhaber los und wendet sich Gott zu. Goethe lässt sie als Engel im zweiten Teil ihren Liebhaber in den Himmel holen, es gibt eine ewige Zusammenkunft dieser beiden, ist das eine Belohnung für ihren Glauben? Doch zuvor muss Faust erst noch reifen, Prüfungen bestehen und erkennen, was er als Mensch Gutes tun kann. Es mutet merkwürdig an, dass das junge Mädchen in den Himmel kommt, obwohl es sein eigenes Kind umgebracht hat - und der alte Mann muss einen Reifeprozess durchlaufen, als sei er noch zu jung für die Aufnahme in den Himmel. Als wäre Gretchen reifer und gefestigter gewesen als der ältere Mann mit dem Wissenschafts-Hintergrund.
Goethes Faust enthält so viele Widersprüche, so viele Wendungen und manchmal denke ich, dass Goethe etwas zu viel gekifft hat, als er den Faust geschrieben hat. Aber dann wieder freue ich mich an der Fülle der Möglichkeiten, die dieses Stück uns bietet. Alles kann so oder anders gesehen werden, alles kann auf die ein oder andere Weise begründet werden. Das ist spannend und wir werden uns daran machen, für uns eine Fassung zu erstellen, die für uns Sinn ergibt und die uns weiterbringt.
Seid gespannt auf das Stück, das dieses Jahr im Kulturklinker Premiere haben wird!
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