
Die Welt dreht sich immer schneller, habe ich das Gefühl. Kaum ist die eine Katastrophe beendet, schon finden drei weitere an anderen Stellen der Erde statt - und es ist kein Ende in Sicht. Wie kann ich da psychisch gesund bleiben, hoffnungsvoll und positiv in die Zukunft blicken? Mir hilft der Blick zurück: die Menschheit hatte schon ganz andere Probleme als das, was mich gerade so beschäftigt, und sie besteht noch immer. Und solange ich lebe, wird sie sich nicht abschaffen, das kann ich wohl mit Sicherheit behaupten. Aber was wird aus meinen Kindern und folgenden Generationen? Ich weiß es nicht und ich kann es auch niemals wissen. Das ist eine Gewissheit, der ich ins Auge sehen muss. "So habt doch einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben..." soll Goethe in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann 1827 gesagt haben. Er schrieb den Faust in einer Zeit, die so ganz anders war als das, was ich heute erlebe - und dennoch habe ich das Gefühl, als würde er unsere Welt kennen. Dieser Dr. Faustus, der alles wissen will, nach Sex, Schönheit und Jugend strebt, sich von Geld und guter Laune blenden lässt und alles verlangt und doch durch nichts zufrieden zu stellen ist - der ist ein Mensch, den ich irgendwie kenne. Und dann der Mephisto, der dem Faust alles ermöglicht und selbst doch der "Knecht" ist, dem alten Mann "dienen" muss. Den kenne ich auch irgendwoher. Ganz zu schweigen vom Gretchen, dieser Nicht-mehr-Kind-doch-noch-nicht-Frau. Die war ich mal, irgendwann in meinem Leben.
Ich habe zum Glück Entscheidungen getroffen, die mich weder in den Kerker noch um den Verstand gebracht haben. Und doch kann ich die Entscheidungen nachvollziehen, an manchen Stellen sogar verstehen. Fremd an der ganzen Faust-Geschichte sind mir die Hexen und Fabelwesen, die wirklich ausufernden Szenen im Gasthaus oder auf dem Blocksberg. Vielleicht habe ich in meinem Leben zu wenig bewusstseinserweiternde Substanzen zu mir genommen, dass ich an diesen Stelle keine eigenen Erfahrungswerte anzapfen kann - aber damit kann ich leben. Meine Fantasie ist lebhaft genug, um mir diese orgiastischen Momente vorzustellen. Aber wenn ich ehrlich bin, bleibe ich lieber bei den Anteilen der Geschichte, die ich so oder so ähnlich erfahren habe - obwohl... Goethe sagte doch, wir sollten uns nicht scheuen, uns "(...) zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen". Also her mit dem Großen, her mit dem Mut und der Hingabe! Wir werden dann wohl mal ausprobieren, was die Szenen in Auerbachs Keller, in der Hexenküche, in der Walpurigsnacht und dem Traum davon zu bieten haben. Das wird neu, körperlich und stimmlich herausfordernd und ich freue mich auf diese Erfahrungen.
Wie verrückt auch immer die Welt um uns herum ist, im Theater ist "verrückt" das, was das Ganze für mich wieder gerade biegt und mir den Mut gibt, in der Welt da draußen zu bestehen, egal wie schnell sie sich auch dreht.
Comments